Tradition und Fortschritt verbinden
|
|
|
|
5. Handlungsmaximen der sozialen Sicherheit.
Neue Balance zwischen Solidarität und Eigenverantwortung
4. Schaubild:
Handlungsmaximen der sozialen SicherheitIm 3. Kapitel wurde gezeigt, welche Potentiale im deutschen Sozialsystem
stecken. Die Herausforderung besteht darin, es konsistent und komplementär
weiterzuentwickeln. In diesem Kapitel geht es jetzt um die Frage, wie in
diesem Sinne Handlungsmaximen zu formulieren sind.
|
|
|
|
|
|
5.1 Handlungsmaximen |
|
Zu den Handlungsmaximen, kantisch gesprochen Maximen des Handelns,
gehören alle Normen, die nur Sollens-Sätze enthalten. Es sind also
keine konkreten Handlungsanweisungen. Handlungsmaximen bilden das
Wertesystem einer Gesellschaft ab. Sie stiften Identität und schaffen
den normativen Rahmen für soziale Abläufe, wodurch eine Gemeinschaft
Stabilität gewinnt. Dabei sollen jetzt nicht Handlungsmaximen im weiteren
Sinne im Mittelpunkt stehen, es geht nicht um „Gerechtigkeit“, „Gleichheit“
oder „Fairness“, die nicht nur für die soziale Sicherheit, sondern für alle
Bereiche gelten. Vielmehr rücken Handlungsmaximen in den Vordergrund, die
sachbereichsspezifische und konkretisierbare Normen für die Soziale
Sicherheit darstellen. Diese Normen müssen nicht neu erfunden werden, sie
haben sich im Laufe der Zeit entwickelt und nichts von ihrer Bedeutung
verloren.
Wirklich neu ist aber die Sichtweise, die hier gewählt wird, um aus diesen
bekannten normativen Elementen eine Struktur zu schaffen, die zur Grundlage
einer Reform der Sozialsysteme werden kann. Bisher beziehen sich viele dieser
Handlungsmaximen auf unterschiedliche Bereiche des bestehenden Systems, wobei
aber oft Zielkonflikte auftreten: Die Handlungsmaximen, die einzelnen
Handlungsinstrumenten zugrunde liegen, widersprechen sich. Konsistenz muss
hergestellt werden: Hier wird jetzt gezeigt, wie sich Handlungsmaximen in eine
bestimmte Struktur einfügen können. Diese Struktur ergibt sich durch einen neuen
Blick auf das bestehende System: Zum einen lässt sich eine Kultur der
Solidarität identifizieren, zum anderen eine Kultur der Selbständigkeit. Diesen
beiden Kulturen kann man Handlungsmaximen zuordnen, wobei eine Handlungsmaxime
nur in eine Kultur gilt, damit diese in sich konsistent bleibt.
5.2 Kultur der Solidarität |
|
Ihr liegt als anthropologische Konstante der Altruismus zugrunde;
ihre Leitlinien sind u. a. Werte wie „Solidarität“ oder „christliche
Nächstenliebe“. Diesen Leitlinien sollten jetzt konsistent Ziele
zugewiesen werden:
- Fürsorge: Der Staat und die Gemeinschaft unterstützen die
Bedürftigen einer Gesellschaft, unabhängig von der Frage, ob ein eigenes
Verschulden vorliegt.
- Armutsbekämpfung ex post, nachdem sie in Erscheinung getreten ist.
- Grundsicherung: Die Sicherung der materiellen Existenz wird jedem
garantiert.
- Kohäsion einer Gesellschaft fördern.
- Relative Gleichheit: Soziale Ungleichheit soll durch staatliche
Maßnahmen korrigiert werden, statt weiter auseinander zu driften.
- Partizipation an der Produktivitätsentwicklung: So kann es
zu einer relativ gerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums kommen.
- Gerechte Verteilung.
Sollen diese Leitlinien und Ziele realisiert werden, ist es notwendig,
folgende Gestaltungsprinzipien anzuwenden: Das Solidar- bzw.
Umverteilungsprinzip sorgt dafür, dass die Gemeinschaft für den Einzelnen
einsteht, und das individuell schwer tragbare Risiko auf viele Schultern
verteilt wird (Finanzierung von Sozialleistungen aus Steuermitteln). Nach dem
Finalprinzip werden Leistungen gewährt, um eine konkrete Notlage zu beheben,
völlig unabhängig von der Ursache, die zu dieser Notlage geführt hat. Gilt das
Bedarfsprinzip, erhalten alle Bedürftigen gesetzlich garantierte
Hilfeleistungen. Dieser Bedarf tritt auf, wenn ein Bürger sich finanziell
nicht helfen kann. Die Technik für diese Leistungen stellt das Umlageverfahren
dar, das zur sofortigen Ausgabe der Steuerzahlungen führt, die der Staat
eingenommen hat.
Die Handlungsinstrumente in der Beveridge-Säule (Sozialhilfe, Grundsicherung
im Alter und bei Erwerbsminderung, Arbeitslosenhilfe bzw. seit 2005 Grundsicherung
für Arbeitssuchende
(Arbeitslosengeld II), Jugendhilfe, Kinder-, Erziehungs- und
Wohnungsgeld, Ausbildungs- und Vermögensbildungsförderung, Soziale
Entschädigung, Lastenausgleich, Wiedergutmachung) und der
Zivilgesellschaftlichen Säule sollten im Rahmen der Kultur der Solidarität.
nach den hier genannten Handlungsmaximen organisiert werden.
5.3 Kultur der Selbständigkeit |
|
Ihre anthropologische Konstante ist der Egoismus, als ihre Leitlinien
sind zu nennen „Eigenverantwortung“, „Eigeninitiative“ oder „Selbsthilfe“.
Auch für diese Kultur sollen jetzt konsistent Ziele aufgestellt werden:
- Vorsorge: Die Bürger sollten durch eigene Beiträge Vorsorge für
zukünftige Lebensrisiken vorsorgen.
- Armutsvermeidung ex ante: Armut soll gar nicht erst entstehen, sie
wird verhindert, indem rechtzeitig entsprechende Vorsorgeleistungen angespart
werden.
- Lebensstandardsicherung: Durch Vorsorgeleistungen soll
gewährleistet sein, dass die Bürger ihren Lebensstandard halten können, zum
Beispiel im Alter.
- Chancengleichheit ex ante: Für alle Bürger soll es die gleichen
Startbedingungen geben, wenn sie im Wirtschaftsprozess tätig werden und
dadurch die Gelegenheit erhalten, sich gegen Lebensrisiken durch Vorsorge
abzusichern.
- Nachhaltiger Sozialstaat: Auch künftige Generationen sollen sich
wie die jetzige Generation auf die sozialen Sicherungssysteme verlassen
können.
Auch diesen Zielen lassen sich jetzt Gestaltungsprinzipien zuordnen,
die eine konsistente Struktur ergeben: Das Versicherungsprinzip als
Gestaltungsform der Vorsorge organisiert die Unterstützung der Gemeinschaft
für das Individuum. Das Kausalprinzip fordert, dass Schäden von ihrer
Ursache her bewertet und therapiert werden. Das Leistungs- bzw.
Äquivalenzprinzip hat zwei Seiten: Zum einen sind die Leistungen umso
höher, je mehr in eine Versicherung einbezahlt wurde. Zum anderen richtet sich
die Höhe von Versicherungsprämien nach dem Risiko, das ein Versicherter
darstellt. Als Technik kommt hier das Kapitaldeckungsverfahren zum
Einsatz: Die ausbezahlten Leistungen erfolgen auf Grundlage der eingezahlten
Beiträge. Das heißt, das Versicherungsunternehmen bildet Rücklagen, aus denen
es die später fälligen Leistungen finanziert. Diese Rücklagen entstehen durch
die Beiträge der Versicherten und deren Verzinsung. Es gibt keinen
Generationen-Vertrag.
Die Handlungsinstrumente in der Bismarck-Säule (Renten-,
Arbeitslosen-, Kranken-, Pflege- und Unfallversicherung) und der Privaten
Vorsorge-Säule sollten im Rahmen der Kultur der Selbständigkeit nach den hier
genannten Handlungsmaximen gestaltet werden. Nur die Familiensäule stützt sich
auf Elemente aus beiden Kulturen. Konsistenz: Wichtig bei der Kultur
der Selbständigkeit: Wollen Bürger eigenverantwortlich handeln, müssen sie auf
geeignete Handlungsinstrumente zurückgreifen können. Sind diese wie im Moment
schlecht konstruiert, nützt es nichts, die Menschen zur Selbsthilfe
aufzufordern. Erst müssen diese Instrumente effizient gestaltet sein, dann
können die Bürger im Rahmen der Kultur der Selbständigkeit Eigenverantwortung
übernehmen. Ein differenziertes und institutionalisiertes Angebot ist nötig,
damit der Einzelne für die großen Notfälle im Leben vorsorgen kann: Krankheit,
Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfähigkeit oder Armut im Alter. Ohne entsprechende
Instrumente wie z. B. Lebensversicherungen ist es nicht möglich,
eigenverantwortlich zu handeln. Allen Gestaltungsprinzipien in beiden
Kulturen muss das Prinzip der Subsidiarität zugrunde liegen: Ist der
Einzelne nicht in der Lage, seine Existenz selbst zu sichern, hat die
Gemeinschaft die Pflicht, unterstützend einzugreifen. Subsidiär bedeutet
Reserve - der Staat stellt sozusagen die „Eiserne Reserve“ dar. Bevor diese
Reserve genutzt wird, muss erst das Individuum selbst aktiv werden. Vorsorge
und Eigenverantwortung haben Priorität vor Fürsorge und Solidarität.
5.4 Komplementarität |
|
Damit das Prinzip der Subsidiarität funktioniert, ist es von entscheidender
Bedeutung, dass sich die Handlungsinstrumente nicht gegenseitig behindern,
sondern ergänzen. Daher müssen diese komplementär aufgebaut werden.
Sie sollten ein Portfolio bilden, das so breit angelegt ist, dass sich alle
denkbaren Ressourcen mobilisieren lassen. Diversifikation schafft Sicherheit,
eine komplementäre Struktur der Handlungsinstrumente ist dafür die Grundlage.
Wie die bestehenden Handlungsinstrumente so umgestaltet und im Rahmen
jeweils einer der Kulturen konsistent aufgebaut werden können – das ist das
Thema des nächsten Kapitels.
|